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Zentrum und Peripherie
Die moderne Gesellschaft existiert heute nur noch im Singular. Es gibt nur noch eine einzige, heterarchisch vernetzte und funktional differenzierte Weltgesellschaft, die sich überall in posttraditionalen Verständigungsverhältnissen einrichten und ihre Probleme durch adaptives Lernen lösen muss. Gleichzeitig pluralisiert sich die Gesellschaft nicht nur in eine Vielzahl von Staaten und oft hochorganisierten Weltregionen (wie der EU), sondern auch in eine ständig wachsende Vielzahl von Rechtsordnungen, Religionen, Kulturen, Lebensformen, die schon lange nicht mehr mit den porös gewordenen Staatsgrenzen identisch sind.
Immer noch aber ist der demokratische Nationalstaat, der aus den Verfassungsrevolutionen des 18. Jahrhunderts hervorgegangen ist, das einzige politische Regime, das imstande ist, die sozialen, politischen und kulturellen Kollisionen von feindlichen Klassen, zerstrittenen Parteien und fragmentierten ethischen Gemeinschaften nicht nur zu pazifieren, sondern deren destruktive Energien in die wichtigste kommunikative Produktivkraft zu verwandeln, ohne deren riskante Dynamik die moderne Gesellschaft rasch absterben müsste.
Der demokratische Nationalstaat ist aber nicht nur intern zur Umwandlung der Destruktivität posttraditionaler Kommunikation in Produktivität imstande, sondern war von Anfang auf universelle Expansion und die Erweiterung seiner Hemissphäre angelegt. Die Folgen waren zutiefst ambivalent: Einerseits eurozentrischer Kolonialismus und Imperialismus, der heute immer noch in der zivilisierteren Gestalt der nordatlantischen Hegemonie fortbesteht. Andererseits aber war die inzwischen vollzogene Weltherrschaft der westlichen Demokratien immer auch an die Expan- sion ihrer normativen Ideale gebunden, die sich schon lange und in immer neuen Varianten gegen ihren eigenen Imperialismus richten.
Europa hat das universelle Verstehen über die Weltmeere exportiert und wird nun, abweichend von seinem zivilisatorischen Selbstverständnis, aus der Perspektive des “anderen Kaps” (Derrida) verstanden. Die westlichen Demokratien haben die Herrschaft des Rechts globalisiert und werden nun auf die Einhaltung der von ihnen gesetzten Normen verpflichtet, und die normative Alternativlosigkeit demokratischer Politik lässt die Defizite politischer Inklusion, egalitärer Freiheit und solidarischer Vergemeinschaftung in allen Weltregionen nun umso deutlicher hervortreten.
Während die Länder im Zentrum eine relativ weitgehende, rechtliche, politische und soziale Inklusion der Gesamtbevölkerung erreicht haben, zerfällt die riesige Peripherie in soziale Segmente überintegrierter Minoritäten und unterintegrierter Majoritäten. Erst in Folge der Globalisierung der Massenkommunikation, der Funktionssysteme und Expertenkulturen, des westlichen Verfassungstyps und der westlichen Hegemonie aber wird die Fragmentierung der Weltgesellschaft in Zentrum und Peripherie zu einem Problem, dem kein Funktionssystem, kein politisches Regime und keine sub- oder supranationale Organisation mehr ausweichen kann. Die Differenzierung von Zentrum und Peripherie ist heute das gemeinsame Problem aller Weltregionen, Funktionssysteme und politischen Regimes.
Die fortschreitende Entkopplung der Funktionssysteme vom Staat gefährdet auch die nationalstaatlich segmentierte Demokratie in den Ländern des nordatlantischen Gürtels. Die Globalisierung verschärft die internen Probleme expansiver Sozial- und Wohlfahrtspolitik, und seit geraumer Zeit läßt sich eine wachsende Spaltung von Zentrum und Peripherie auch innerhalb der OECD-Staaten beobachten, die nicht nur produktive Nischenexistenzen und neue kulturelle Blüten in der Provinz aus sich hervor treibt, sondern auch eine bedrohlich wachsende Armutsexklusion und politische Apathie zur Folge hat. Wenn aber gleichzeitig Armutsexklusion und politische Apathie wachsen, kann es leicht zu einer Kummulation von Problemen kommen, anderen Ende statt demokratischer Lösungen das “Ende der Demokratie” (Guéhenno) stünde.
Die neue Reihe des Rainer Hampp Verlags soll diese Probleme in Monographien und Sammelbänden zum Gegenstand machen, den Forschungsstand dokumentieren, Nutzen für Lehre und Praxis abwerfen.
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